Wien, am 15. März 2021. Der Online-Handel zählt auch im Bekleidungssektor zu den großen Gewinnern der Pandemie: Der US-Riese Amazon konnte im letzten Jahr seinen Jahresgewinn um fast 200 Prozent steigern und vor allem im Textilgeschäft massiv an Marktanteilen dazu gewinnen. Auch in Österreich zählt Amazon inzwischen zu den Top 10 im Einzelhandel. Gleichzeitig blieben die Löhne und Entschädigungen von Millionen Textilarbeiterinnen unbezahlt, nachdem Fabriken in der Pandemie von heute auf morgen geschlossen wurden. „Während Amazon neue Geschäftsrekorde feierte, mussten jene Arbeiterinnen hungern, die Kleidung für die Kundinnen und Kunden herstellten. Neben einer längst ausständigen Wiedergutmachung müssen diese untragbaren Zustände in Zukunft mit rechtlichen und finanziellen Mitteln verhindert werden“, sagt Gertrude Klaffenböck, Koordinatorin der Clean Clothes Kampagne (CCK) bei Südwind. Die Menschenrechtsorganisation fordert konkret die Nachzahlung der ausstehenden Löhne. Zusätzlich soll der Aufbau eines neuen internationalen Lohn- und Abfindungs-Garantie-Fonds eine weltweite Versicherung für Lohnzahlung und Entschädigung bieten und Arbeiterinnen, so vor Armut und Hunger schützen.
Amazon ist nicht das einzige Unternehmen, das Arbeiterinnen und Arbeiter in seinen Lieferketten inmitten der größten globalen Gesundheitskrise derart im Stich gelassen hat. Laut dem CCK-Bericht „Un(der)paid in the pandemic“ wurden in den ersten drei Monaten der Pandemie bis zu 5,8 Milliarden US-Dollar an Löhnen für die vorwiegend weiblichen Arbeiterinnen in Asiens Textilindustrie nicht ausgezahlt. Dazu zählen Zulieferbetriebe von großen Marken wie Primark, Amazon und Nike. Diese haben die Pandemie zum Anlass genommen, um weiteren Preisdruck auf Textilfabriken auszuüben. Ausständige Zahlungen wurden mit Verweis auf die Krise vielfach sogar gänzlich verweigert. Dadurch entfiel für Millionen Menschen das einzig verfügbare, oft ohnehin niedrige Familieneinkommen ohne jegliche Entschädigung. „Diese unmenschliche Ausbeutung entlang globaler Lieferketten zeigt einmal mehr, wie enorm der Aufholbedarf bei Arbeitsrechten und Sorgfaltspflichten ist“, so Südwind-Expertin Klaffenböck. „Die mangelnde Verantwortung von Modeherstellern und -händlern gegenüber Arbeiterinnen und Arbeitern hat System. Es braucht daher zusätzlich zu einer wirksamen Absicherung auch rechtliche Mittel, die eine umfassende Haftung der Unternehmen garantieren.“
Menschenrechts-Allianz startet PayYourWorkers-Aktionswoche in 35 Ländern
Südwind und die Clean Clothes Kampagne fordern gemeinsam mit mehr als 200 Organisationen aus 35 Ländern die sofortige Nachzahlung der ausständigen Löhne und Entschädigungen. Die neue Petition #PayYourWorkers-Respect Workers Rights setzt sich für den Aufbau eines weltweit gültigen Lohn- und Abfindungs-Garantie-Fonds für Arbeiter*innen ein. Gleichzeitig müsse das Recht, sich zu organisieren und Tarifverhandlungen zu führen, garantiert werden. In Rahmen einer am 15. März startenden Aktionswoche macht die PayYourWorkers-Allianz mit weltweiten Protestveranstaltungen und Online-Aktionen auf die Ausbeutung in der Textilindustrie aufmerksam. Zu den unterstützenden Organisationen zählen Grassroots Gewerkschaften wie die Garment Labour Union in Indien, große Gewerkschaftsverbände aus Italien, der Schweiz, Belgien und den Niederlanden sowie zivilgesellschaftliche Organisationen wie Südwind und die Clean Clothes Campaign.
Download des Berichts von 2020: „Un(der)paid in the pandemic. An estimate of what the garment industry owes its workers“
Die Petition Pay Your Workers-Respect Workers Rights kann online unterzeichnet werden unter: https://www.cleanclothes.at/de/mitmachen/pay-your-workers/
Fallbeispiele von Arbeitsrechtsverletzungen der Textilindustrie in 2020:
- Bangladesch: Im März 2020 wird die Fabrik A-One BD Ltd. in Bangladesch geschlossen. Nach zwei Monaten ohne Lohn verlieren 1.100 Textilarbeiter*innen ihren Job. Die Fabrik belieferte große Modeunternehmen wie Next, Benetton und Arcadia (Topshop). Die Arbeiter sind seit nunmehr über einem Jahr ohne Lohn oder Entschädigung. „Einmal hatte ich zwei Tage hintereinander nichts zu kochen für meine Kinder“, berichtete Tahmina Azad, eine ehemalige Angestellte von A-One gegenüber dem Guardian. Proteste der Arbeiter*innen wurden mehrfach gewaltsam von der Polizei sowie bezahlten Schlägergruppen angegriffen.
- Kambodscha: Im Juli 2020 verlieren über 1.200 Textilarbeiter*innen ihren Arbeitsplatz, als die Fabrik von Violet Apparel in Kambodscha plötzlich geschlossen wird. Ausstehende Löhne und Boni bleiben unbezahlt. Zu den Beziehern zählten NIKE und Matalan. Die suspendierten Arbeiter*innen erhielten zum Zeitpunkt der Schließung maximal 70 US-Dollar pro Monat an Unterstützung – etwa 30 US-Dollar vom Arbeitgeber und der Rest von der Regierung. Das entspricht weniger als 40 Prozent des Mindestlohns. Darüber hinaus wurden Boni und Abfindungen aufgeschoben und die Verantwortung verweigert. NIKE behauptet trotz gegenteiliger Zeugenaussagen und Fotos keine Ware von Violet Apparel bezogen zu haben. „Es ist schwer, Geld für die Schulausbildung meines Kindes zu bekommen, die Bank zu bezahlen oder für medizinische Behandlung, wenn meine Familie krank ist“, sagt Ong Chanthoeun, ein Gewerkschaftsführer, der 17 Jahre lang in der Fabrik gearbeitet hat, gegenüber ABC News. In Kambodscha führen die Gewerkschaften koordinierte Aktionen durch, um die entgangenen Einkünfte zurückzufordern.
- Sri Lanka: In Sri Lanka haben etliche Arbeiter*innen in Textilfabriken weder ihren vollen Lohn erhalten noch die Boni, die vorgesehen sind, um Armutslöhne aufzubessern. In mehreren Fabriken landesweit werden nach wie vor Arbeitskämpfe über einbehaltene Zahlungen geführt. In der Fabrik Next Manufacturing Ltd., eine 100-prozentige Tochter des britischen Textilhändlers Next, wurden die Neujahrsboni gestrichen. Nach einem erfolgreichen Streik im Dezember 2020 wurden diese zwar zurückbezahlt. Als die Belegschaft danach beschloss, eine Gewerkschaft zu gründen, verweigert die Fabriksleitung jedoch deren Anerkennung. In der Sunitra-Fabrik, die ebenfalls Next beliefert, warten Arbeiter*innen immer noch auf ausständige Boni und Löhne.